Eine AIDA-Geschichte

AIDA – Last Minute

(c) Dr. Alfred Becker

Es war gegen 9 Uhr an diesem letzten Reisetag (wenn wir einmal von der Überfahrt zur Ausschiffung nach Mallorca absehen), als die AIDAsol , begleitet vom Lotsenboot, im Hafen von Barcelona festmachte.
Da die gebuchten Ausflüge, der Shuttlebus und die ungebuchten Landgänge fast „synchron“ in dieser zehnten Tagesstunde von Bord riefen, leerten sich die Frühstücksrefugien wie auf ein geheimes Kommando hin, und die Landgänger drängten sich in den Fluren und Treppenauf- und -abgängen vor dem Ausstieg auf Deck 5. Man möchte sagen, sie scharrten mit den Hufen; doch dafür mangelte es an Raum. Aber schließlich kam die Menge in Fluss, und gewiefte Strömungstechniker nutzten die Turbulenzen, um an der wallenden Woge vorbei und durch die Barcode-Kontrolle hindurch ans spanische Festland zu spülen.
Als wir, meine Frau und ich, schließlich oben auf der Gangway standen, winkten etliche der Schnellstarter triumphierend von Ihren Sammelpunkten herauf. Aber irgendwann in der elften Tagesstunde hatten auch wir es geschafft und drängten zum Shuttlebus, verfolgt von den Verwünschungen derer, die nicht ganz so schnell oder vielleicht auch nicht ganz so enthemmt waren wie nun wir. Und nach einer kurzen Fahrt durch die Hafenanlagen spuckte uns der Bus am World Trade Center (kurz WTC) das optisch wenig mit dem gewesenen amerikanischen Gegenstück gemein hat, aus. Dies also war unser erster Besuch der katalanischen Metropole, und den galt es effektiv zu nutzen, also viel zu sehen und einen Glanzpunkt (mal nicht Highlight) zu setzen. So entschieden wir uns ohne jeden rationalen Grund für die Busse der „Barcelona City Tour“ mit ihren beiden Linien, Orange und Grün. Erstere befährt den Westen der Stadt, letztere den Osten, und irgendwo da, wo beide bei Antoni Gaudís La Pedrera (der Steinbruch, wie man das Haus Milà hier nennt) tangieren, konnten wir von Orange auf Grün wechseln, um zum Spektakulum der Rundfahrt zu gelangen, zur Kathedrale Sagrada Familia, genauer: Temple Expiatori de la Sagrada Família; zu Deutsch laut Wikipedia „Sühnekirche der Heiligen Familie“. Der Bau der von Antoni Gaudí im neukatalanischen Stil entworfenen Kirche, so sagt die Enzyklopädie weiter, ist bis heute unvollendet. Sie wurde 1882 begonnen und soll nach jüngsten Prognosen 2026 abgeschlossen sein.
Was quasi als „Pilgerfahrt“ zur Kathedrale gedacht war, entwickelte sich im Doppelsinn des Wortes zur zweistündigen Kreuzfahrt durch Barcelona, über zahllose Kreuzungen vorbei an Kirchen und Kapellen, vorbei am Weltausstellungsgelände anno damals und an den Arenen früherer olympischer Spiele, vorbei an dem geheiligten Rasen des FCB nebst Merchandising Facilities bis hin zur Umsteigestelle, von wo die Grüne uns zum weithin überragenden Wunschziel, der „Sagrada Familia“ bringen soll. Mit Ticket und Audioguide , was auf Deutsch etwa Eintrittskarte und Tonführung heißen könnte, fördert man selbst bei Rentnerrabatt nicht unerheblich die Fertigstellung der Basilica minor, ein Rang, in den „unser Papst“ das Stück Weltkulturerbe erhoben hat.
Guinnessbuchverdächtige zwei Millionen Touristen, rund 5500 pro Tag, drängen durch die Pforten der romantisch verklärenden Weihnachtsfassade in das erhabene, buntlicht durchflutete Innere des Kirchenschiffs, dessen als gigantisch empfundenen Maße in der Breite locker die AIDA übertreffen, in der Länge aber um zwei Drittel hinter unserem Schiff zurückbleiben. Da fällt ein Vergleich mit den zugelassenen 2580 Passagieren eindeutig zu Ungunsten des Kirchenschiffes aus; erst recht aber, wenn man die ca. 610 Besatzungsmitglieder der AIDA zu den zumeist kassierenden Bediensteten der Basilika in Relation stellt, wobei sich der Verdacht einschleicht, dass sich in diesem Sakralschiff selten einmal ein klerikaler Kapitän auf der Brücke – was hier die Kanzel wäre – antreffen lässt. „Auf der AIDA wäre das der Untergang“, meint meine Frau. „Es heißt auch hier nicht Ahoi, sondern Halleluja. Vielleicht ist das die Rettung?!“
„Aber der Meßwein ist sicherlich gut“, meinte meine Frau. „Der in der Offiziersmesse an Bord kann da wohl mithalten“, mutmaße ich. „Aber davon abgesehen, gibt es in diesem Punkt doch einen wesentlichen Unterschied zwischen Kirchenkreuzschiff und Kreuzfahrtschiff.“ „Nämlich?“ „Auf der AIDA gibt es Wein für alle, also nicht nur für den Kapitän!“ „Und das Brot schmeckt besser“, ergänzte sie.
Von der Wucht der Säulen und Bögen erschlagen, vom Aufbrausen der Orgel betäubt und von der Flut des Lichtes geblendet, schwemmten uns die so gespeisten 5000 zum harschen Passionsportal hinaus. Zwei Stunden voller andächtigem Staunen waren verflogen. Nein, nicht noch einmal umkehren! Der Versuchung der Sagrada Familia ist eisenhart widerstehen!
Es ist ziemlich genau 15, 30 Uhr. Um 17, 30 Uhr haben alle an Bord zu sein. Schaffen wir locker. Ginge es nach der Schaffnerin (nennen wir sie mal so) der Grünen Linie, sind wir um 16, 45 am World Trade Center, rechtzeitig für den vorvorletzten Shuttlebus. Wir könnten ja noch einen letzten Blick. Zwei weitere Busse hätten wir ja noch! … Nein! Nein! Besser zu früh an Bord als der italienischen Flagge ein verzweifeltes „Adios, AIDA Mia“ nachzujammern.
Und pünktlich fährt der Grüne ab. Zwei Stunden haben wir noch, eine und etwas sollten locker reichen. Die Ampeln grün, gelb, rot; rot, rot, gelb, – hellgelb, dunkelgelb, hellrot, dunkelrot, blassrot, rötlich. Grünlich, gelblichgrün, rot. Rot, rot, rot. Lieber rot als tot?
16, 45 Uhr, die Ankunft ist nicht mehr drin! Eher 16,55 Uhr. Noch rechtzeitig für den letzten Shuttle. Wieso eigentlich „Shuttle“? Zubringer täte es doch auch. Oder Pendler.
Irgendwo zwischen grün, gelb und rot müssen wir von Grün auf Orange umsteigen, wenn wir zum WTC wollen. Der Grüne hält hinter dem Orangenen. Naranja heißt der hier. Naranja wartet noch auf Verde, den nächsten Grünen. Und der scheint auf der roten Welle zu reiten.
16,55 Uhr, das ist nicht mehr drin! Eher 17,05 Uhr. Vielleicht noch rechtzeitig für den letzten Shuttle? Muss ja kein Zubringer sein, kein Pendler oder so. Shuttle reicht, wenn das Ding nur da wäre! Und Naranja fährt ab. „Paciencia“, beruhigt die Schaffnerin. Paciencia. Weshalb die Aufregung? Paciencia, Señor. Paciencia! – Fehlt nur noch „mañana“.
Eine Haltestelle weiter, bei der Catedral de la Santa Creu i Santa Eulàlia, zieht Naranja II in eine Parkbucht und hält tuckernd hinter Naranja I, von mir so genannt, weil der Bus vor unserem fährt. Fahrer und Schaffnerin sind sichtlich entspannt. Als Naranja I endlich abfährt, knappe 5 Minuten später, schiebt sich Naranja II, der unsere also, auf dessen Platz vor, das Tuckern erstirbt. Fahrer und Schaffnerin steigen aus. Zigarette? Beide rauchen genüßlich. Rauchen gefährdet unsere Nerven, oder? Und da steigt noch der Kollege von Naranja III – gerade hinter uns angekommen – in Bus. Über was reden die nur?! Fahrt endlich weiter! Die Fingerknöchel meiner Hand, die den Haltebügel umklammert, färben sich gelblich blass. Was, wenn der Fahrer Moslem ist und jetzt Gebetszeit wäre? Matte gen Mekka? Mein Gott, es ist 17 Uhr irgendwas! Fahrt endlich weiter!!! Oh Zeichen und Wunder! Die Orange rollt wieder!
17,20 Uhr, frühestens, dann sind wir am WTC. Kein pendelnder, zubringender Shuttle mehr, aber noch gefühlte 2000 Meter bis zum Schiff. Wie lautete der Tagesbefehl? 17,30 Uhr, alle Mann an Bord! Alle, minus zwei. Stau auf Naranjas letzten Metern. Dann der Hafenstopp am WTC. Auf der leergefegten Hafenstraße kein Taxi. Nichts! Nichts? Hallo, schau mal, da drüben! Ein Bus! Der Bus?
Ja, der Bus, der Zubringershuttlependler! Leer, bis auf eine lächelnde (politisch korrekt) AIDA ScoutIn, nennen wir sie Angela, unser Engelchen vom Dienst. (Ein Fall fürs Nachtgebet.) Dazu ein langmütiger Fahrer nebst zwei Tränen schniefenden Mädchen, verspätet auf ihrem Weg zu einer Costa, liebevoll aufgelesen von unserem Engelchen. Der letzte Bus, eine Minute nach der vorletzten Minute!!! Hinter uns schließt sich zischend die Tür; der Shuttlebus rollt los. Erst zur Costa, dann von der Costa zur AIDA. Raus aus dem Bus, Garcías, Señor! Im Laufschritt durch das leere Hafengebäude. Die Gangway hinauf zur gelangweilt wartenden, nennen wir sie: „Hello and Good bye ManagerIn“.
17,30 Uhr. „Alle an Bord? “ frage ich sie. Und nachdem sie auch meine Frau eingescannt hat und auch das Engelchen die letzten stufen genommen hat, nickt sie zufrieden: „Jetzt ja.“
Und schon kommt das Lotsenboot. Zu spät für eine ausgiebige Farewell-Mahlzeit. Die Gangway wird weggerollt, und die Maschinen beginnen zu rumpeln. Die AIDA-Melodie krächzt wie ein heiserer Klabautermann-Chor, eingepfercht im Kettenkasten unter dem Ankerspill. Oder wie eine verrostete Tonkonserve lange nach Ablauf des MHD.
Die Sol gleitet Mallorca entgegen. Und die Lotsen gehen hungrig von Bord.
In der Any-Time-Bar (die gerne „Jederzeit Bar“ heißen könnte) stoßen wir etwas später auf ein völlig neues, ein atemberaubendes Erlebnis an: AIDA – Last Minute.